Zeichnungen, Indian Ink
Kleines Fenster, zu Nachbars Garten hin
Henriette Tomasi, März/April 2020
Man hört nur das leise Knistern der Seiten, das kaum wahrnehmbare Atmen der Menschen, das Blättern, das Räuspern. Stille im Saal der Bibliothek, mal das Aufstehen, das Rücken von Stühlen, mal die bedächtigen Schritte eines Lesers, das Umstapeln der schweren Bücher. Sonne fällt durch die großen, trüben Fenster der Bibliothek, Staub in der Luft, das Licht fängt sich zitternd darin. Die alten hölzernen Stühle und Tische knacken, die Dielen arbeiten in der sommerlichen Hitze. Aus den Regalreihen hört man das leise Schreiten suchender Leser – versunken und konzentriert. Manch einer kratzt mit dem Bleistift Notizen auf Blätter. Dem Geräusch lausche ich drei Reihen weiter. Ich versinke im Buch, betrete die Landschaft der Wörter, vergesse die Welt der Stille um mich und erkunde die Geheimnisse, die sich zwischen den Zeilen entspannen. Die Gegenwart ist die Welt des Buches.
Meine Gedanken schweifen ab – gehen spazieren im flirrenden Staub, im schräg einfallenden Sonnenlicht über den Bibliotheksplätzen. Es ist als würden sich die alten Schriften mit Geheimnissen umgeben, als würden sie schimmern und im nebligen Licht alter Zeiten verschwimmen. Die Sonne verschwindet langsam am Horizont, dunkle Schatten legen sich in die Stille des Raums. Die Plätze leeren sich. Ein Lämpchen leuchtet an meinem Platz. Immer dunkler wird es draußen, immer einsamer der Saal. Ich bin die Letzte, die im Buch versunken.
Plötzlich erwache ich. Ich war eingenickt, der Traum verfliegt, mein Buch nur auf dem Schoß, vor meinem kleinen Fenster des engen Raums, das ein Rechteck zu Nachbars Garten hin.
Henriette Tomasi, 30.03.2020
Träumende, 29,7 x 42 cm, Indian Ink auf Papier 250g/qm, säurefrei
Zeichnung aus der Reihe "DREAMING", Indian Ink auf Papier,, handgezeichnet, 29,7 x 42 cm
Müde vom Tanzen, 29,7 x 42 cm, Indian Ink auf Papier 250g/qm, säurefrei
Zeichnung aus der Reihe "DREAMING", Indian Ink auf Papier,, handgezeichnet, 29,7 x 42 cm
Henriette Tomasi, März/April 2020
Müde vom Tanzen, ausgepowert und beschmiert mit Glück, tritt sie den Heimweg an. Es war ein besonderer Abend – es spielte Musik, die keiner kannte, unbekannte Komponisten, wundersame Klänge, Tonfolgen, die herausforderten, aber nicht ins Ohr gingen. Sie weiß, sie ist noch nie diesen Klängen mit ihrem Körper gefolgt. Sie musste sich einlassen auf Sphärisches, Erzählerisches, Rhythmisches, das wieder in Fragmente zerfiel. Nichts blieb ihr im Ohr – alles vergänglich – flüchtig – nur das Gefühl, sich fallen gelassen zu haben in eine fremde Welt der Instrumente. Ihr fiel sofort auf, dass die Musik ganz auf Gesang verzichtete, dafür übernahmen oft Instrumente zart die fremdartigsten Klangfolgen, die einer Welt entstammen mussten, die ganz Phantasie war. Sie schwebte fast, während sie sich bewegte, mal hielt sie inne, mal machte sie sich klein, mal schien sie aus der Melodie hinauszuwachsen. Die Musik war nicht laut, sie liess es zu, ihr zu folgen oder sich ihr zu entziehen. Es war ein Abend, der in Erinnerung bleibt. Auf dem Rückweg nun, durch die dunklen Strassen der Stadt, sieht sie die Fassaden der Häuser mit ganz anderen Augen: sie wundert sich über Ecken und Kanten, über Licht und Schatten, über leuchtende Farben, über Ein- und Ausblicke, die unendliche Weite. Sie bemerkt die verschiedenen Strassen, ihre ihr unbekannten Namen, die Bäume, die wild ins Bebaute ragen, die Unkräuter, die am Wegesrand, wie die Freiheit wachsen. Ganz still ist es in der Stadt – spät ist es. Ihr fällt ein, dass dieser Weg tagsüber von wuselnden Menschen bevölkert war – in dieser Nacht ist er ausgestorben ... .Weiter und weiter geht sie durch die Stadt, mal sind es bekannte Wege, mal Winkel, in denen sie noch nie gewesen ist. Immer weiter führt sie der Weg. Ob sie nach Hause findet? Sie vertraut auf ihr Gefühl. Ob es sie täuscht? Die Bilder verschwimmen. Ihr kribbeln die Füsse. Sie blickt auf den Boden, erwacht. Ein grüner Fleck auf dem Boden, Licht der Leuchtreklame des Hochhauses nebenan.
Henriette Tomasi, 24.03.2020
Zeichnung aus der Reihe "DREAMING", Indian Ink auf Papier,, handgezeichnet , 29,7 x 42 cm
Zeichnung aus der Reihe "DREAMING", Indian Ink auf Papier,, handgezeichnet, 29,7 x 42 cm
Scherben unter den Füssen
Bedeckt mit Sand, nur Nasenspitze, Mund, Augen schauen heraus. Sie wollten etwas Kindisches tun, trafen sich am Strand. Die Sonne schüttete Licht und Wärme in Kübeln. Ihre Haut brannte. Er sagte „Ich buddele Dich ein.“ Sie rannte weg, lachend. Er fing sie. Sie legte sich hin und spürte den warmen Sand auf dem Körper. Sie hörte das Meer an den Strand branden, Möwen schreien, Muscheln klirrten auf der Haut. Immer schwerer die Schicht. Wärmend, wohlig. Es dürfte sie nicht jeder eingraben, sagte sie – doch hier war es ein Spiel, das beide schon in ihrer Kindheit hätten spielen können. Sie holten es nach – gerade jetzt. Sie dachte an die Spuren im Sand, die sie hinterlassen hatten, durch die Dünen sich ziehend, den ganzen Strand entlang. Sie schauten zum Horizont mit der sich rot rollenden Sonne, redeten. Sie erschrak, wenn sie zurückblickte, das Meer ihrer beider Spuren auslöschte. Wenn die Wellen die Füsse benetzten, hüpften sie, wichen aus, mal stellten sie sich ihnen. Nun lagen sie beide am Strand – alleine. Er auf dem Sand, sie darunter. Ganz still. Auf was warteten sie?
Der Abend kam, die Sonne färbte den Horizont. Die Wellen berührten ihre Fußspitzen, legten sie langsam frei. Es wurde kalt. Sie krabbelten den Strand hinauf, legten sich in die Dünen. Sie schliefen ein, vergassen diesen zerbrechlichen Tag, den letzten gemeinsamen – nie.
Erwacht mit Scherben unter den Füssen, Fragmente dieses zerbrochen Traums.
Henriette Tomasi, 23.03.2020
Das Paar, Indian Ink und Tusche auf Papier, handgezeichnet
Leporello "HUMAN II", Indian Ink und Pappe auf Papier, handgezeichnet und collagiert , Mai/Juni 2020
Der Träumer, Indian Ink auf Papier, handgezeichnet